Branchenkompass Public Sector
Bundesagentur für Arbeit
digitalisiert und automatisiert
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) setzt auch unter Führung der neuen Vorstandsvorsitzenden Andrea Nahles stark auf Digitalisierung. Zudem sollen die internen Prozesse soweit möglich automatisiert werden. Auch Cloud Computing und KI sollen verstärkt verwendet werden. Im Fokus stehen stets die Bedürfnisse der Kunden und Mitarbeiter, wie CIO Dr. Markus Schmitz im Interview hervorhebt.
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Herr Dr. Schmitz, welche Chancen und Risiken bietet die Digitalisierung der Bundesagentur für Arbeit?
Die Digitalisierung bietet allen Behörden große Chancen. Zum einen fördert sie Innovationen und entfesselt kreative Energie. Zum anderen unterstützt sie Organisationen dabei, ihr Geschäftsmodell weiterzuentwickeln. Bei der BA gibt Kundenorientierung die Richtung für die Digitalisierung vor. Unsere Kunden – Bürger, Arbeitgeber und Behörden – haben Anspruch auf einen zeitgemäßen digitalen Service.
Gleichzeitig unterstützen wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei, ihre Aufgaben sowohl im Büro als auch zu Hause mit zeitgemäßen Werkzeugen zu erfüllen. Das ist unser Leistungsversprechen als IT. Zu Beginn der Pandemie haben wir die BA in kurzer Zeit auf Homeoffice und digitale Kunden-Frontends umgestellt. Mittlerweile können über 60.000 Homeoffice-Arbeitsplätze gleichzeitig genutzt werden, über den Tag verteilt sind es deutlich mehr, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Zu Corona-Hochzeiten waren es über den Tag verteilt 65.000.
Eine Herausforderung der Digitalisierung besteht darin, auf Kunden- und Mitarbeiterseite keine Menschen zu verlieren. Um unsere Mitarbeiter stärker an der Transformation zu beteiligen und sie zu unterstützen, haben wir ein Digital-Change-Management-Team eingerichtet. Es gibt auch eine eigene Intranet-Plattform für Mitarbeiter, die sehr beliebt ist, weil sie über Click-Dummies und Screenbooks sämtliche E-Services aus Kundensicht zeigt.
Hat die Bundesagentur eine Digitalstrategie?
Ja, wir planen unsere Strategie in Fünf-Jahres-Zeiträumen und passen diese alle zwei Jahre an. Gerade aktualisieren wir die Strategie 2025. Parallel dazu hat Andrea Nahles gemeinsam mit uns die Dekade der Automatisierung eingeläutet, um unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Routinetätigkeiten zu entlasten, damit mehr Zeit für die Kunden bleibt. Sie setzt sich auch für die Nutzung von Multi-Cloud-Computing und KI ein.
Aller Voraussicht nach werden wir bis Jahresende 2022 alle im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes geplanten 70 E-Services anbieten können; damit stehen wir im Behördenvergleich sehr gut da. Allerdings sind die Prozesse in unserem Backend noch nicht vollständig automatisiert, da wir Daten an vielen Stellen immer noch händisch übertragen. In den kommenden Jahren werden wir aber mehr und mehr Prozesse von Ende zu Ende medienbruchfrei automatisieren.
Wie entwickeln Sie neue digitale Services?
Wir arbeiten mit agilen Entwicklungsmethoden. Statt Projekte wie früher wasserfallartig zu entwickeln und die Nutzer erst nach Fertigstellung nach ihrer Zufriedenheit zu fragen, beziehen wir unsere Kunden heute schon bei der Ideenentwicklung mit ein. Wenn es sich um Services außerhalb unserer Kernprozesse handelt, arbeiten wir auch mit Minimal Viable Products, die wir kontinuierlich weiterentwickeln.
Bei Kernprozessen wie der Antragsstrecke für das Arbeitslosengeld muss der Service dagegen von Beginn an fehlerfrei sein. Die Kunden können unsere Services mit Sternen bewerten und inhaltlich kommentieren. So hat die Anfang des Jahres eingeführte Online-Arbeitslosmeldung mittlerweile über 30.000 Bewertungen und eine Fülle von Kommentaren. Aktuell liegt der Durchschnitt bei 4,1 Sternen, und der größte Schmerzpunkt ist die Notwendigkeit, sich mit dem neuen Personalausweis identifizieren zu müssen. Daraus lernen wir weiter.
Löst sich durch das agile Arbeiten die hierarchische Struktur der BA?
Agiles Arbeiten klappt tatsächlich auch innerhalb einer Hierarchie. Das ist kein Gegensatz. Eine Herausforderung liegt eher in der Zusammenarbeit der IT mit den Fachabteilungen. Manche sind flexibler als andere – und das auf beiden Seiten. Um die Verzahnung mit den Fachabteilungen zu fördern, bauen wir die IT derzeit nach dem interdisziplinären Konzept DevSecOps um und orientieren uns stärker auf die IT-Produktebene und die Kundenkernprozesse. Dieser Ansatz soll für eine schnelle, agile Entwicklung von Anwendungen sowie deren sicheren Betrieb sorgen.
Bremst nicht auch der regulative Rahmen Ihre Innovationsfähigkeit als Behörde?
Weniger ist sicher mehr, aber: Die Regulierung hat auch ihren Sinn, und unsere Services müssen rechtskonform sein. Dies kann dazu führen, dass manche Services umständlicher sind als im privaten Sektor. Wir mussten beispielsweise unserem Chatbot eine etwas hölzerne rechtskonforme Sprache beibringen, die dennoch gut verständlich ist. Immer mehr Kunden nutzen ihn bei der Suche nach Informationen auf unserer Homepage.
Während der Pandemie profitierten wir von erleichterten Verfahren und Ausnahmeregelungen bei der Digitalisierung. Ansonsten hätten wir es nicht geschafft, unseren kompletten Betrieb in so kurzer Zeit auf Telefon und digitalen Service umzustellen. Einige unserer Angebote mussten wir nach Wegfall der Ausnahmeregelung aber leider wieder auf den früheren Stand zurückfahren. So konnten wir Bürgerinnen und Bürgern zu Beginn der Pandemie das digitale Identitätsverfahren Selfie-Ident anbieten, das mittlerweile wieder abgeschaltet ist, da es der Regulatorik nicht genügt. Bürger konnten sich per Telefon arbeitslos melden und ihre Identität digital per App nachweisen. Rund 1,5 Millionen Menschen haben innerhalb eines Jahres die gesetzlich zwingend vorgeschriebene Identifizierung über das Selfie-Ident-Verfahren abgeschlossen, anstatt persönlich mit Personalausweis in die Arbeitsagentur vor Ort kommen zu müssen. Heute können sich Bürger mit dem elektronischen Personalausweis oder – etwa beim Kindergeld – mit dem Elster-Zertifikat ausweisen. Ich würde aus Bürgersicht entweder eine behördenweite Akzeptanz von Elster begrüßen, da dieses Verfahren in Deutschland sehr verbreitet ist, oder aber die Fortführung eines Auto-Ident-Verfahrens.
Welche Rolle spielt hierbei die digitale Souveränität?
Eine große Rolle. Wir wollen so weit wie möglich unabhängig von einzelnen IT-Dienstleistern sein. Unter diesem Aspekt stellen wir uns regelmäßig die Frage, ob wir eine Anwendung selbst entwickeln oder als Standardsoftware zukaufen wollen. Software für kritische Prozesse wie die Bearbeitung von Kurzarbeitergeld entwickeln wir selbst. Bei manchen Kernprozessen könnten wir zwar alternativ auch Standardsoftware verwenden, doch individuelle Anpassungen sind teilweise so teuer, dass sich die Selbstentwicklung für uns lohnt.
Behörden sollten künftig als Kriseninterventionsmanager agieren.
Die Wirtschaftlichkeit ist also ein weiterer wichtiger Faktor …
Wir müssen jeden Beitrags-Euro verantworten, den wir ausgeben. Deshalb prüfen wir bei jeder Anwendung unsere Eigenleistungsfähigkeit auch unter Kostenaspekten. Sobald wir externe IT-Dienstleister einsparen und durch eigene Leistungen ersetzen, können wir die entsprechende Position im Sachhaushalt streichen.
Bei ERP-Software und in der Bürokommunikation setzen wir auf Standardprodukte, können aber oftmals nicht die neuesten Versionen verwenden, wenn diese nur in der Public Cloud nutzbar sind. So arbeiten wir bei der Kommunikation und bei Videokonferenzen mit Skype for Business statt mit MS Teams. Bezüglich nicht komplexer und wenig kritikaler Anwendungen oder Services ist es uns wichtig, dass wir den Anbieter jederzeit wechseln können. Dies trifft zum Beispiel auf unsere User-Help-Desk-Anwendung zu. Unsere Mitarbeiter dort sind in der Lage, gegebenenfalls schnell auf einen alternativen Dienstleister zu wechseln, da die Prozesse dort hoch standardisiert sind. Bei der Nutzung der Public Cloud bremsen uns die regulatorischen Vorgaben. Wegen des Schrems-II-Urteils des EuGH können wir die Produkte der großen ausländischen Hyperscaler nicht nutzen. Wir favorisieren deshalb einen Multi-Cloud-Ansatz mit einem Mix aus BA-interner Cloud, Public Cloud und vertrauenswürdigen Cloud-Angeboten. Die künftige vertrauenswürdige Public Cloud des Bundes könnte Angebote von Hyperscalern und deutschen bzw. europäischen Anbietern umfassen, die für ihre Dienste eine Zertifizierung von BSI und BfDI haben.
Wann erwarten sie die ersten vertrauenswürdigen Public-Cloud-Angebote?
Die Anbieter stehen in den Startlöchern und bereiten gerade regulierungskonforme Cloud-Services vor, die komplett in Deutschland betrieben werden. Darunter sind Unternehmen und Kooperationen wie Delos, AWS, Telekom gemeinsam mit Google sowie Dataport oder die Schwarz-Gruppe. Noch fehlt die Freigabe der zuständigen Behörden. Wir selbst haben bereits einen Proof of Concept dafür erstellt und wären in der Lage, definierte Services zügig in eine vertrauenswürdige Cloud zu wechseln.
Für den Austausch und die Entwicklung von Daten und Services mit Partnern sind digitale Ökosysteme hilfreich. Nutzt Ihre Behörde solche Plattformen?
Ich bin ein großer Freund digitaler Ökosysteme. Plattformen erleichtern uns schon heute den Datenaustausch mit Behörden. Mein Motto lautet: Akten und Daten sollen elektronisch wandern, nicht die Menschen. Ein konkreter Anwendungsfall sind die Rente und die Krankenkassen, an deren Datenaustausch eine Vielzahl von Behörden inklusive der Bundesagentur arbeitet. Ein weiteres Beispiel ist You Connect, eine Plattform, die den Datenaustausch über Jugendliche, die in mehreren Sozialsystemen betreut werden, erleichtert. Herausfordernd ist es bei solchen Plattformen, ein DSGVO-konformes Berechtigungskonzept zu erstellen.
Das Arbeitsministerium hat jetzt gemeinsam mit der Bundesagentur den Startschuss für die Nationale Online-Weiterbildungsplattform NOW! gegeben und damit ein Ökosystem gestartet, um Nutzern Weiterbildungsinformationen bundesweit und über mehrere Verwaltungsebenen hinweg zugänglich zu machen. Die Verknüpfung der Informationen erfolgt über den Wohnort der Nutzerinnen und Nutzer. Darüber erhalten sie Angebote von Jobcentern, IHKs, Bundesländern, Kommunen, Bildungsträgern etc. Ein solches von der BA orchestriertes Ökosystem bedarf zahlreicher Schnittstellen und einer regelmäßigen Redaktion, um das Angebot aktuell zu halten.
Die Bundesagentur verwaltet einen riesigen Datenschatz und könnte KI nutzen, um ihre Services zu optimieren. Gibt es hierfür erste Schritte?
Wir verwenden seit zehn Jahren die E-Akte – das hat uns gerade zu Beginn der Pandemie sehr geholfen. Durch Automatisierung und KI wollen wir die Daten künftig intensiver nutzen. KI bietet für viele Bereiche intelligente Prognose- und Automatisierungsmöglichkeiten. Wir haben dafür mit den „rechnerintensiven Methoden“ ein eigenes Kompetenzzentrum gegründet, das unter anderem beobachtet, wie andere Institutionen weltweit KI einsetzen. Die datenethische Fundierung steht für uns dabei an erster Stelle, denn wir wollen keine Vorurteile der Vergangenheit in die Zukunft fortschreiben, sondern wirklich neue Erkenntnisse gewinnen.
Könnten Sie uns Beispiele für Ihren KI-Einsatz nennen?
Zwei Beispiele fallen mir dazu ein: Beim Familiengeld nutzen wir maschinelles Lernen, um die Echtheit von Studienbescheinigungen zu prognostizieren. Bei Stellenangeboten von Unternehmen hilft uns KI in Kürze dabei, standardisierte Stellenprofile aus angelieferten Texten zu extrahieren.
Bundesagentur für Arbeit (BA)
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit Sitz in Nürnberg erbringt Leistungen für den Arbeitsmarkt, insbesondere die Arbeitsvermittlung sowie die Arbeitsförderung, und regelt als Verwaltungsträgerin der deutschen Arbeitslosenversicherung die finanziellen Entgeltersatzleistungen, zum Beispiel das Arbeitslosengeld. Die BA ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, die der Rechtsaufsicht durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unterliegt. Die BA ist Deutschlands größte Behörde und hat rund 100.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; davon gehören der BA-IT etwa 2.000 Beschäftigte an.
Inwieweit haben Sie in der IT auch die Nachhaltigkeit im Blick?
Wir wollen spätestens 2030 klimaneutral sein. Bereits heute verwenden wir ausschließlich grünen Strom, doch wir wollen auch den Stromverbrauch in Summe senken – in unseren Rechenzentren und in den Endgeräten. Bei Ausschreibungen spielt deshalb der Nachhaltigkeitsaspekt auch eine Rolle.
Durch die E-Akte sparen wir intern sehr viel Papier. Auch der Rechtsverkehr mit Anwälten und Gerichten läuft seit Mitte 2020 digital. Durch den elektronischen Versand und Empfang von Nachrichten und Akten zwischen BA und Justiz sparen wir jährlich zusätzlich rund 25 Millionen Blatt Papier. Mit dem Projekt E-Justiz haben wir beim diesjährigen 21. eGovernment-Wettbewerb in der Kategorie Nachhaltigkeit durch Digitalisierung sogar den zweiten Platz gewonnen. Darüber hinaus sparen wir durch intensive Nutzung von Videokonferenzen Dienstfahrten ein.
Die Pandemie hat auch dem Thema Resilienz mehr Gewicht gegeben. Wie widerstandsfähig ist die BA gegen Krisen?
Ich sehe beim Thema Resilienz – neben dem klassischen Auftrag – eine neue Rolle für öffentliche Verwaltungen: Behörden sollten künftig auch als Kriseninterventionsmanager agieren. Wir müssen in der Lage sein, unsere Arbeit aus dem Stand heraus digital zu erledigen. Skalierbarkeit und Integrationsfähigkeit sind deshalb das A und O bei allen Prozessen. Die BA sieht sich bereits heute in der Lage, schnell komplett auf digitales Arbeiten umzustellen. Das haben wir während der Corona-Pandemie bewiesen.
Wichtig ist, dass wir auch nach Abflauen der Pandemie unsere digitalen Errungenschaften behalten und in Richtung Resilienz ausbauen. An der einen oder anderen Stelle sollten wir die Regulierung anpassen, um in Krisensituationen flexibler zu sein. Einen Rollback zurück in die Zeit vor der Pandemie sollten wir jedenfalls vermeiden.
Das Interview führte Eric Czotscher.